Haya-Lea Detinko

Haya-Lea Nakhmanovna ist eine kultivierte gastfreundliche Frau im Alter von 82. Sie erinnert sich perfekt an viele Details ihres schwierigen Lebens und des Lebens ihrer Ahnen. Sie ist stolz auf ihre Verwandtne. Trotz ihrer 15-jährigen Qual in einem politischen Lager, behielt sie die besten Eigenschaften ihrer Seele und will den kommenden Generationen ein Beispiel der Größe des Geistes ihrer Verwandten und Freunden weitergeben. Haya sagt, dass es ihre Pflicht ist, die Geschichten vom jüdischen Leben zu vermitteln, in dem sie der spirituellen Kraft und dem Wohlstand ihrer Vorfahren Tribut zollt.


Meine Familie

Meine Großeltern mütterlicherseits stammten aus dem Landesteil Riwne in Polen. 1939 eroberten die Russen diesen Teil Polens und es wurde zur westlichen Ukraine. Pinkhas Leib, der Vater meiner Mutter, wurde 1827 geboren. Seinen Nachnamen kenne ich nicht, das heißt, ich kenne den Geburtsnamen meiner Mutter auch nicht.

Großvater war groß und gutaussehend. Er trug einen langen Bart mit Pejes [Schläfenlocken]. Er war sehr religiös – Er trug immer eine Kippa und ging regelmäßig in die Synagoge. Meine Großeltern sprachen miteinander Jiddisch und meine Mutter sprach deshalb auch sehr gut Jiddisch. Meine Großeltern lebten lang; Mein Großvater war um die 100 als er starb. Ich weiß nicht mehr, wie meine Großmutter mütterlicherseits hieß, aber ich kann sie mir noch vorstellen und mich daran erinnern, dass ich sie „Großmutter“ nannte.

Sie und mein Großvater zogen sich sehr gut an, um in die Synagoge zu gehen. Meine Großmutter trug immer Perücke in Einklang mit den traditionellen Bräuchen und darüber ein schwarzes durchsichtiges Tuch. Sie feierten alle jüdischen Feiertage. Am Anfang vom Schabbat zündeten sie immer Kerze an und am Ende feierten sie moite-Schabbes [Ende vom Schabbat] oder Hawdala [dasselbe auf Hebräisch]. Sie waren sehr nett und halfen gern Menschen, vor allem den Armen, die bei uns für eine Spende vorbeikamen.

Am Schabbat luden die Großeltern diese armen Menschen ein, sowie alle Kinder und Freunde, die zu Besuch waren, und gaben ihnen Tscholent [jüdisches Eintopfgericht]. Da das Kochen am Schabbes nicht erlaubt ist, bereitete Großmutter alles am Abend zuvor vor und stellte es am Freitagabend in dem russischen Ofen, so dass das Essen am Schabbes noch heiß ist. Wir aßen auch Challa.

Meine Mutter, Pesya-Mindlya Pinkhas-Leibovna Kats, wurde in 1897 im Kreis Riwne geboren. Sie erhielt keine Bildung und war Analphabetin. Sie war Hausfrau und Mutter und zog vier Kinder groß: Hava [1916-1960], Aron-Moisha [1919], Haya-Lea (Ich) [1920] und Bella [1925-1941].

Sie war sehr religiös und brachte uns die jüdischen Traditionen bei. Meine Mutter wurde 1941 in Riwne im Alter von 44 ermordet. Meine Mutter hatte zwei Schwester, Malka und Khana – auch Hausfrauen mit Kindern. Alle kamen 1941 im Riwne-Ghetto ums Leben.

Meine Großeltern väterlicherseits habe ich nie kennengelernt, da sie lange vor meiner Geburt starben. Mein Vater erzählte mir einmal, dass seine Schwester Miriam Chernizer denselben Namen besaß wie meine Mutter Miriam Kats; an viel mehr erinnere ich mich nicht.

Miriam wurde 1941 in Riwne erschossen. Mein Vater hatte auch einen Bruder namens Shaya, der bis 1941 Lehrer in Riwne war. Er wohnte im jüdischen Viertel in der Nähe der Synagoge in der Shkolnaya-Straße. Shaya hatte viele Kinder und seine Familie war ziemlich arm. Vater half ihnen sehr oft. Shaya und seine Familie wurden von den Deutschen ermordet.

Mein Vater, Nakham Abramovich Kats, wurde 1895 in Orokhov – damals Polen, in der Nähe von Lwiw – geboren. Ich war nur einmal in Orokhov als ich vier Jahre alt war; ich kann mich nicht daran erinnern.

Als Kind war mein Vater im Cheder [traditionelle, religiös-geprägte Schule] und in 1909 absolvierte er eine Jeschiwa in Orokhov. Mein Vater wurde zum Rabbi [smikhot] geweiht, doch er dachte, er würde seine Familie damit nicht ernähren können, also wurde er Börsenmakler. Jedenfalls war er Vorstandsmitglied der Synagoge in Stoloner. Mein Vater wollte nicht zum Wehrdienst einberufen werden. Also schnitt er mit Absicht zwei Zehen seines Fußes ab und wurde dadurch befreit. Mein Vater wurde 1941 in Riwne im Alter von 46 Jahren ermordet.

Meine Kindheit

Ich, Haya-Lea Nakhmanovna Kats (Detinko), wurde 1920 in Riwne geboren.

Unsere Lebensumstände waren ziemlich furchtbar. Wir wohnten in dem nassen Keller bei meinem Onkel Braker – er war der Cousin meiner Mutter und relativ wohlhabend. Im Hof wohnte ein Böttcher, der Fässer mit Bändern aus Metall reparierte, und wir mussten von morgens bis abends den Krach seiner Arbeit ertragen.

Wir Kinder wurden alle in dem Entbindungshaus in Riwne geboren. In 1925 brachte meine Mutter meine Schwester Belle zur Welt. Bella sprach nur auf jiddisch und ging zur jüdischen Schule bis sie 15 Jahre alt war. 1927 bekamen meine Eltern noch einen Sohn, doch sie konnten ihn nicht nach Hause bringen, da er durch einen Brand im Entbindungshaus verstarb.

Mein Großvater Pinkhas Leib war bereits angereist für die Beschneidung meines neuen Bruders. Die ganze Familie war entsetzt wegen seines Todes. Sie kochten Erbsen und andere Gerichte. Man erinnert sich nicht gern daran, wie ein schwarzgekleideter Mann mit einem schwarzen Paket zu nach Hause kam. Die Trauer war herzzerbrechend und ich habe es nie vergessen.

Unser religiöses Leben

Wir feierten alle jüdischen Feiertage bei uns. Zum Pessach saßen wir in Sesseln (ein Brauch namens mesubin) und lasen Haggada. Wir füllten vier Gläser mit Wein und öffneten die Tür für Ilya (Isaiah der Prophet), damit er eintreten und trinken kann. Einmal wurde ich zum Tür-Aufmachen geschickt und da stand ein Bettler vor der Tür. Ich hatte Angst und versteckte mich unter dem Tisch. Mein Vater lud den Bettler ein und er saß und aß mit uns am Tisch.

Im Stadtmitte von Riwne gab es eine große, schöne Synagoge. Sie war in der Nähe von uns und das Zentrum jüdischen Lebens. Viele unserer Cousins studierte dort bei der Jeschiwa und kamen uns unter der Woche und zum Schabbat besuchen.

Meine ganze Familie, inklusiv mir und meiner Mutter, ging in die Synagoge.

Zum Jom-Kippur fasteten wir. Das mache ich heute noch, trotz meiner Krankheiten, genauso wie ich es in den Lagern gemacht habe.

Am Rosch ha-Schana freuten wir uns immer über den Klang des Schofars [Widderhorn]. Das erste was wir am Tag nach dem Fasten machten, war eine Tasse Tee mit Milch zu trinken. Ich stellte den Samowar auf und wartete darauf, bis meine Eltern zurück von der Synagoge kamen.

Meine Mutter ging zum Markt – der in Riwne sehr groß war – um Essen zu kaufen. Sie kam immer erschöpft wieder und sagte uns, „lass mich fünf Minuten schlafen sonst schaffe ich nichts.“ Manchmal ging ich mit ihr. Wir versuchten nur koschere Produkte zu kaufen und brachten die Hühner vom Markt zum Schochet [koscherer Metzger], der sie schlachtete.

Wir hatten kein Dienstmädchen und ich half meiner Mutter im Haus, vor allem beim Backen. Mein Bruder, Aron, half ihr auch mit Haushaltsarbeit. Ich wischte die Böden und Aron polierte die Holzoberflächen bis sie glänzten. Meine ältere Schwester Hava war schon mit der Schule fertig und verheiratet und meine jüngste Schwester, Bella, war zu klein, um mit dem Haushalt zu helfen.

Schule und Hashomer Hatzair

1925, als ich ein bisschen älter war, wurde ich für ein Jahr zum Cheder mit Aron geschickt, wo ich das Lesen und Schreiben von den Rabbinern und anderen belesenen Männern mit Bärten lernte. Dort lernte ich das Schreiben auf hebräisch. 1926 fing ich an der Grundschule Tarbut an, die ziemlich weit von uns entfernt war und wo meine ältere Schwester Hava auch lernte. Ich war insgesamt 11 Jahre an der Schule: die ersten drei waren Vorbereitungsjahre, aber die acht folgende Jahre waren in der Grundschule. Ich fing mit sechs an der Tarbut an. Wahrscheinlich weil mein Grundwissen für den ersten Jahrgang nicht ausreichend war, musste ich den wiederholen.

Der Unterricht war halb auf polnisch und halb auf hebräisch. Ab der vierten Klasse hatten wir Fremdsprachen, unter anderem Deutsch und Latein. Jedes Fach wurde von einer anderen Lehrerin oder einem anderen Lehrer unterrichtet. Ich war generell eine gute Schülerin. Als mein Bruder anfing zurückzufallen, war er bei mir im selben Jahrgang. Wir trugen eine Schuluniform, die von einer Freundin meiner Mutter gemacht wurde, einer Schneiderin. Ich ging gern mit meiner Mutter hin, um meine schönen neue Kleider anzuprobieren. Dadurch entwickelte ich ein Interesse an Nähen.

Die älteren Schüler warben bei den jüngeren für sämtliche Jugendorganisationen. Ich trat bei dem Hashomer Hatzair [Der junger Wächter]. Wir hießen b’nai mitbar [Kinder der Wüste] und trugen viereckige Tücher auf den Köpfen. In der Schule nähten wir besondere Sterne auf unseren Baskenmützen. Aron trat bei Betar. Ihm gefiel die Paradeuniform, mit der er wie ein Krieger aussah. Wir trugen stolz die Unformen und Tücher. Zu der Uniform meines Bruders gehörte auch eine Trillerpfeife um den Hals.

Meine Familie lebte relativ gut, doch manchmal fehlte mir das Geld, um meinen Mitgliedsbeitrag [keren kayemet] bei Hashomer Hatzair zu bezahlen. In solchen Fällen bot ich Nachhilfe zu jüdischen Familien mit jüngeren Schülern an. Für jeden Unterricht erhielt ich 5 zloty, eine ziemlich kleine Summe, doch ich war stolz darauf, dass ich es zumindest allein verdiente und mir nichts von meinen Eltern leihen musste.

Wir sammelten auch Geld für Israel von anderen Juden. Jeden wurde ein Bezirk zugeteilt. In meinem Bezirk waren die Leute großzügig.

1936 kam ich in die 6. Klasse. Aber in diesem Jahr musste ich aufhören, da ein Lehrer namens Khvoinik anfing, mich zu schikanieren. Einmal, nachdem die ganze Klasse eine Algebra-Prüfung schrieb, bekamen alle ihre Noten außer mir. Ich stand auf und fragte nach meinen Noten. Er fragte: „ist Hava Kats deine Schwester?“ Als ich positiv antwortete, gab er mir meine Prüfung wieder, worauf er geschrieben hatte: „Ich bin mir nicht sicher, dass du diese Arbeit allein machtest.“ Sofort kamen die Tränen und ich sagte ihm: „Lassen Sie meine Schwester da raus.“ Danach musste ich das Klassenzimmer verlassen und in Folge dessen fing er an, mich für alle möglichen Sachen zu beschuldigen. Ich fragte meinen Vater nach Nachhilfe, so dass ich mich auf den Unterricht komplett vorbereiten konnte. Dann hörte Khvoinik aus, mich überhaupt was zu fragen. Schlussendlich brach ich mit 16 die Schule ab; eine Entscheidung, die ich nicht bereue.

1932 trat meine ältere Schwester Hava einem Kibbutz in Polen bei und wohnte ein Jahr dort. Dort lernte sie Yakov Blikh kennen, der zu ihrem Freund wurde und der ihr dabei half, von Polen nach Israel auszuwandern, wo sie Medizin studieren wollte. Yakov und Hava heirateten irgendwann. Meine Eltern schickten sie nach Israel mit einer Plüschdecke und einem schönen Mantel. Ich habe ein Foto von ihr aus dieser Zeit.

Sie war sehr schön und alle ledigen Männer in Riwne waren in sie verliebt, auch der Lehrere Khvoinik.

Yakov und Hana hatten zwei Kinder, beide Söhne. Hava starb in 1960 im Alter von 44 aus mir unbekannten Gründen, auch wenn sie hohen Blutdruck hatte. Als ich in Israel war, besuchte ich das Grab meiner Schwester. Hava wurde Krankenschwester und war sehr angesehen – sogar geliebt – im Krankenhaus, in dem sie arbeitete. Sie starb bei der Arbeit – was ich eine lange Zeit nicht wusste.

Einer von Havas Söhnen starb jung, aber der andere Sohn, Avraan Blikh, lebt noch in Israel. Als 1988 Natan, der ältere Sohn meines Bruders Aron, mich aus Deutschland besuchte (jetzt lebt er auch in Israel), verheimlichte er vor mir, dass Hava tot war.

Nachdem ich mit 16 die Schule verließ ging ich zum ORT, wo man eine Berufsausbildung zur Näherin absolvieren konnte. Dort studierte ich „leichte Damenmodeartikel“ bei der Dozentin Frau Galina. Ich machte Fortschritte und genoss es sehr. Die Räumlichkeiten waren sehr sauber und auf dem Boden war nie ein einziger Faden. Ich versuche diesem Beispiel zu folgen und Ordnung in meiner Wohnung zu halten – bis heute.

Nach dem ich die Ausbildung absolviert hatte, fing ich damit an, Büstenhalter, Korsetts und ähnliches zu nähen. Es war eine nette Beschäftigung und meine Liebe fürs Nähen, die ich von meiner Mutter geerbt hatte, kam mir zugute.

Zuerst lebten wir in Riwne ärmlich, aber dann wurde das Börsenmakler-Geschäft meines Vaters erfolgreicher. Er konnte eine Reihe Häuser für seine Familie kaufen. Schließlich wohnten wir in einem großen Haus mit 12 Zimmer, ohne die Küchen.

Wir wohnten im zweiten Stock einer Drei-Zimmer-Wohnung und mieteten die anderen Stockwerke unter, um etwas Zusätzliches zu verdienen. Dort wohnten wir bis 1941. Danach wurden wir von den Russen gezwungen, unseren Wohnraum zu verkleinern, bis wir nur den einen Raum hatten. Diesen durften wir nur deshalb behalten, weil meine Mutter so viel weinte. Sonst hätten sie uns komplett aus dem Haus rausgeschmissen.

Das Zimmer hatte keinen Zugang zur Straße oder Treppenhaus; deswegen gaben uns die Nachbarn, die jahrelang neben uns wohnten, einen kleinen Nebenraum neben der früheren Wohnung. Dieses Zimmer benutzten wir, um rein und raus zu gehen, obwohl es zu ihrem Schlafzimmer führte.

Die Ankunft der Russen

1939, als die Russen in Riwne einkamen, bekam mein Vater eine Stelle als Geschäftsführer in einem Hallenlager, wo Holz verarbeitet wurde. Ein Jahr später wurde er entlassen, als sie ihn zu verhassten „Bourgeoisie“ erklärten, weil er ein Haus besaß.

Danach war mein Vater arbeitslos bis er von den Deutschen ermordet wurde, nachdem sie 1941 Riwne nochmal eroberten.

In 1938 entschied ich mich dafür, die Fußstapfen meiner älteren Schwester Hava zu treten und einem Kibbuz in Slonim, Polen im Kreis Baranovitsky beizutreten. Ich wollte wie Hava nach Israel einwandern. Im Kibbuz lernte man diverse Jobs, um für ein Leben in Israel vorzubereitet zu werden. Am 17. September 1939 eroberten die Russen den Kreis Baranovitsky und die Stadt Riwne und ich ging nach Hause. Meine Freunde und ich gingen zu Fuß durch den Wald bis wir den Zug erreichten, dann fuhren wir mit der Bahn nach Riwne. Alle freuten sich darüber, mich wieder zu sehen.

Von 1939 bis 1941, während die Russen im besetzen Riwne waren, bot das NKWD Kurse zur Buchhaltung an. Ab Ende 1939 studierte ich und bis Juni 1941 arbeitete ich als Buchhalterin beim NKWD. Die Polen, unter Anweisung der Russen, zum Bauen der Przemyśl-Kiew-Autobahn geschickt. Meine Buchhaltungsabteilung zog mit ihnen los und irgendwann 1940 erreichten wir den Ort Przemyśl.

Diese waren furchterregende Zeiten – Krieg drohte. Nachdem ich ein Jahr meines Vertrags abgeschlossen hatte, fragte ich die Russen um Genehmigung, nach Hause zu fahren. Der Personaldirektor versuchte mich dazu zu überreden, dass ich bleibe, indem er mir Beförderung und eine Verbesserung des Gehalts versprach. Doch als ich anfing zu heulen, ließ er mich zurück nach Riwne fahren.

Meine Familie war wieder arm. Mein Vater verlor seine Stelle beim Holzverarbeitungswerk und alles sah hoffnungslos aus. Januar 1941 bekam ich endlich eine Stelle als Buchhalterin bei einer staatlichen Druckerei. Ich arbeitete viel und wurde vom Kollektiv herzlich empfangen. Ich war bei ihnen sehr angesehen und wurde zu öffentlichen Amten gewählt. Es schien mir, ich hätte meinen Platz in dieser neuen Gesellschaft gefunden.

Meine Festnahme

Auf einmal, plötzlich und ohne Warnung, kamen um 3 Uhr morgens am 5. Juni 1941 einige Russen um mich festzunehmen. Sie zeigten mir den Haftbefehl und begannen mit einer Hausdurchsuchung. Meine Mutter verstand sofort, was passierte und wurde ohnmächtig. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Bella wurde um 3 Uhr morgens zur Apotheke geschickt, um erste Hilfe zu suchen. Ich nutzte meine ganze Kraft, den Mund meiner Mutter aufzumachen und rief nach Wasser. Als sie wieder zu Bewusstsein kam, schrie sie: „Wofür hast du mich gerettet? Sie nehmen dich weg, ich will nicht leben!“

Ich habe meinen Vater, meine Mutter oder meine kleine Schwester Bella nie wiedergesehen.

Wir gingen durch den ganzen Ort zu Fuß zum Gefängnis. Wenn ich fragte: „warum wurde ich festgenommen?“, sagten sie nur: „Das wirst du herausfinden!“ Sie sperrten mich sofort in ein großes Zimmer, in dem es schon viele andere Gefangene gab. Ich erkannte einen Freund und erfuhr, dass sie an dem Abend sieben Leute festgenommen hatte.

Später beschuldigten sie uns, Mitglieder bei Hashomer Hatzair zu sein, was sie als antisowjetische zionistische Organisation bezeichneten. Während den ersten Tages meiner Haft bekam ich Pakete von meinen Eltern, dazu auch warme Kleidung. Das fand ich überraschend und ich fragte mich: „Warum? Werde ich nach Sibirien ins Exil geschickt? Wofür brauch ich solche warme Kleidung?“

Als ich zum Verhör aufgerufen wurde, war ich sehr nervös. Ich hatte einen Freund, der hieß Azriel Vevrik und war Einzelsohn aus Berestechko. Er war groß, gutaussehend und hatte blaue Augen. Er war auch Buchhalter und kam oft nach Riwne mich besuchen. Mein Vater wollte, dass wir uns verloben, doch die Zeiten waren ruhelos und wir ließen uns Zeit dafür.

Als ich also zum Verhör aufgerufen wurde – was aus irgendwelchem Grund immer dann passierte, während wir uns im Badehaus wuschen – dachte ich mir, er wäre er auch festgenommen worden und dass ich seine Stimme hörte.

Ausbruch des Krieges

17 Tage nach meiner Festnahme, um 4 Uhr morgens am 22. Juni, eine Stunde vor Reveille, läutete eine schreckliche Sirene. Alle in der Zelle, in der wir auf dem Boden schliefen, verstanden sofort, dass sie das Allerschlimmste bedeutete: Der Krieg hatte begonnen.

Am 25. Juni 1941 begannen sie damit, uns von Riwne weiter östlich ins Territorium der Sowjetunion zu evakuieren. Wir wurden auf Leinwand-bedeckten LKWs zum Bahnhof gebracht und in Güterwagen für Viehtransport geladen. Ich konnte nichts sehen. Als wir an mein Haus vorbeifuhren, riefen diejenigen, die es sahen und mich kannten: „Wir fahren jetzt an Hayas Haus vorbei!“ Ich konnte meinen Kopf nicht rausstecken und schauen, weil mich die Wächter mit ihrem Gewehr schoben. Die Strecke wurde durchgehend von Flugzeugen bombardiert, aber wir überlebten. Die freien Ukrainer, die mit im Zug in anderen Wagen waren, sprangen beim Lauten der Sirene vom Zug hinunter, um Obdach zu finden. Wir durften das nicht, weil wir bewacht wurden. Die Ukrainer gaben den tief fliegenden deutschen Piloten Zeichen, dass es Gefangene im Zug gab. Vielleicht überlebten wir so die Bombenangriffe.

Nach dem Alarm kamen die Ukrainer in jeden Wagen vorbeischauen ob es Verwundete gab. So erreichten wir Kamyschin in der Region Stalingrads, wo wir in ein weiteres Gefängnis gebracht wurden. In diesem Gefängnis waren nur Frauen und man musste zu zweit in einem Bett schlafen.

Neue Ermittlungen wurden durchgeführt und schon wieder wurde ich als Mitglied der zionistischen Organisation Hashomer Hatzair angeklagt. Als die Front näher rückte, wurden wir wieder in den Osten evakuiert.

Diesmal fuhren wir auf einen Frachtkahn einen Fluss runter bis wir in einen Ort mit Arbeitslagersiedlungen überall ankamen. Die Lebensumstände auf den Kahn waren richtig grausam. Eine Cholera-Epidemie brach aus. Oft starben die Menschen dort, wo sie standen; es gab sogar einen Mann, der am dem Tisch starb, an dem wir aßen. Viele kamen ums Leben. Unter ihnen war meine Freundin Hana, die sich Cholera zuzog. Ich wollte mich um sie kümmern, aber die Russen erlaubten es mir nicht. Während sie noch lebte, wurde sie von den gesunden Gefangenen getrennt. Zu diesem Zeitpunkt fingen sie schon an, die kranken Menschen lebendig zu verbrennen – ebenso wie eine Krankenschwester, die sich bei der Pflege der Kranken eine Entzündung zuzog.

Als wir endlich vom Frachter abgeladen wurden, zeigte jemand auf eine Gestalt am Boden und sagte mir, „Guck, da liegt ein Wissenschaftler. Schau wie viele Wurme um ihn herum sind!“ Wir, die Überlebenden dieses Trennungsverfahrens, lebten dann neun Monate irgendwo in der Kazan-Region, ich glaub der Ort hieß Swijaga, unter Quarantäne gestellt.

Dort fing ich mir eine schlimme Erkältung ein. Ich konnte nicht gehen und war im Krankenhaus. Als ich mich etwas erholte, wurde ich wieder zur Arbeit geschickt. Eines Tages sah ich meine Freundin Hana, die eine Hose und eine Männerjacke trug. Ich war mir so sicher, dass sie tot war! Ihre Kleidung wurde wegen der Krankheit verbrannt und sie bekam deswegen diese schlecht passende Kleidung. Ich kümmerte mich um sie und wie schliefen zusammen in einem Bett. Sie war eine gute Damenschneiderin und besorgte sich einen Laden in Swijaga.

Sie brachte mir ganz viel rund um das Nähen bei. Das führte dazu, dass ich im Lager ankündigte, dass ich nähen konnte, obwohl ich noch zur allgemeinen Arbeit geschickt wurde. Ich habe immer noch einen verletzten Finger. Meine Freundin Hana wohnt derzeit in Israel.

Das Urteil

Im Laufe der vier Jahren war ich in elf verschiedenen Gefängnissen. Endlich wurde mein Urteil verkündet: 10 Jahre Haft und noch fünf Jahre Exil.

Da konnte ich nur stehen und mich flüstern: „Zehn Jahre! Zehn Jahre!“ Eine Sicherheitsfrau gab mir ein Foto von ihr und sagte, „Hier, Kats, nimm das als Erinnerung!“ Dieses Foto habe ich immer noch.

Nach dem Urteil wurde ich ins Ost-Ural-Lager in Tawda geschickt, ein gemischtes Lager für Männer und Frauen. Am Anfang schickte mir die Lager-Behörden zum allgemeinen Arbeitsdienst aber ein paar Tage später erfuhren sie, dass ich nähen kann, und ich wurde zur Schneiderin beauftragt. Ich wurde am 9. Mai 1945 von dem Ost Ural Lag befreit.

Der Kommandant sammelte uns zusammen und kündigte den Sieg an. Aber für uns änderte sich nichts.

In 1946 kam mein Bruder, Aron, mich besuchen. Er hatte überlebt und mich überall gesucht. Als er mich fand, bekam er irgendwie eine Genehmigung dafür, mich zu besuchen. Weil ich vorher wusste, dass er kommen würde, konnte ich ihm ein ganzes Notizbuch auf hebräisch geschrieben vorbereiten. Ich schrieb alles runter, was mir passierte und betitelte es: „Nur gestorben bin ich nicht.“ Als ich ihm das Notizbuch gab, fragte mich Aron, „Was soll ich machen – auf dich warten oder nach Polen gehen?“

Zu dieser Zeit wurden die Polen nach Polen repatriiert und ich riet ihm sofort zu gehen. Er war schon verheiratet und hatte ein Kind. Von Polen aus zog Aron und seine Familie nach Deutschland, wo er Leiter einer jüdischen Grundschule wurde. Dort arbeitet er bis er die Chance hatte, nach Israel zu gehen. Ihre ersten fünf Jahren in Israel wohnten sie in Elend, aber er konnte sein Studium weiterführen und wurde Lehrer für Mathematik.

Er arbeitet als Mathe-Lehrer bis zur seinen Pensionierung. Jetzt wohnt er in Holon, in der Nähe von Tel Aviv, und ich korrespondiere mit ihm. Sein Sohn, Natan, wohnt im Kibbuz. Als Aron mir von dem Tod meiner Eltern und kleinen Schwester Bella erzählte, wurde ich sehr krank. Alle drei starben im Ghetto in Riwne.

Aron überlebte nur durch ein Wunder. Wegen meiner Nervenkrankheit litt ich unter einen Nessel-Ausschlag und verbrachte über ein Jahr im Krankenhaus. Danach fing ich wieder in der Nähwerkstatt an. Während dieser Zeit wurde ich von allen gut behandelt. Die freien Arbeiter rieten mir, die Beschäftigung weiter zu meistern, do dass ich nicht nur nähen, sondern auch schneiden konnte.

1951, mit nur drei Monaten übrig bis ich entlassen wurde, wurde ich in ein strenges staatliches Lager in Mordwinien geschickt. Stalin erteilte den Befehl, alle „politischen“ Gefangene in staatliche Lager zu stecken. Nachdem wir Krasnojarsk erreichten, fuhren wir auf einen Frachtkahn den Jenissei-Fluss hinauf bis zur Maklakowo-Siedlung [heute Lessosibirsk]. Das war eine große Siedlung mit einer großen Forstwirtschaft.

Dort gründete ich eine Werkstatt, die leichte Kleider herstellte und in der ganzen Siedlung bekannt wurde. Mein Leben im Exil fing an. Ich hatte immer genug Arbeit, Arbeiter und Geld. Ich mietete ein Zimmer, kaufte eine Nähmaschine und fing an, ein normales Leben zu führen.

Das Leben im Exil

Es gab in der Malkakowo-Siedlung eine jüdische Familie aus Vilnius. Der Mann war wie ich im Exil und seine Frau hatte sich dafür entschieden, bei ihm zu sein. Sie hießen auch Kats, aber da sie aus Litauen kamen, hatten sie eine „-as“-Endung, also hießen sie eigentlich „Katsas“. Sie waren mir sehr warm mir gegenüber und luden mich immer für Feiertage zu ihnen ein. Wir freundeten uns schnell an.

An einem Pessach hatten sie irgendwoher Mazze bekommen und luden mich und einen anderen Mann namens Shaya Itskovich Detinko zum Sederarbend ein. Wir konnten beide nähen und er fragte mich, ob ich eine Nähmaschine habe. Dann fragte er, „Darf ich vorbeikommen und mir eine Mütze nähen?“ So fing unsere Freundschaft an.

Wie ich wurde Shaya in Polen geboren – in 1903, also war er 17 Jahre älter als ich. Ich weiß nichts über seine Eltern, außer dass sein Vater Itsik hieß. Seine ganze Familie war tot.

Shaya war ein gut ausgebildeter Mann und vor dem Krieg arbeitete als Rektor der höheren kommunistischen Politikuniversität in Leningrad. Er war gut angesehen und seine Freunde hatten ihn sehr gern. Seine Frau wurde in Leningrad als polnischer Spion festgenommen, und kurz danach wurde er 1933 als Komplize ebenso festgenommen. Shaya wurde zum Tode verurteilt, aber die Strafe wurde zu 10-jähriger Haft umgewandelt. Seine Tochter Bella überlebte und wurde im Internat großgezogen. Jetzt lebt sie in Kemerowo [Russland]. Später, als Shaya im Gefängnislager in Swerdlowsk war, bekam er noch 5 Jahre. Er war begeisterter, sehr bekannter und angesehener Kommunist. Er wurde zu insgesamt 15-Jahren Haft verurteilt.

Ehe und Rehabilitierung

Während seiner Haft verlor Shaya alle Haare auf dem Kopf. Ich mochte ihn sowieso glatzköpfig. Er war ein guter Mann, ein guter Freund und später wurde er mein Ehemann. Zuerst wohnten wir in meinem gemieteten Zimmer. Später bauten wir ein eigenes Haus.

Bis dahin wurde Shaya rehabilitiert. Ich bekam eine Stelle in einer Sekundarschule, wo ich Schülern Schneiden und Nähen lehrte, schloss daher den Laden. 1956 feierten wir im Exil die jüdischen Feiertage mit der Familie Gendler. Wir backten Mazze, kochten Gefilte Fisch, Tzimmes [Möhren mit Pflaumen] und Galuschka [Hühnerfett mit Eiern].

Zum Schawuot machten wir Pfannkuchen mit Hüttenkäse. Zum Purim backten wir Hamantaschen – Dreiecke mit Mohn.

Diese Treffen kündigten wir nicht an und unsere Nachbaren wussten nichts von unseren jüdischen Feiertagen.

In 1957 erhielt ich einen „sauberen“ Pass ohne Einschränkungen. Jetzt durfte ich überall hingehen und überall wohnen.

Ich entschied mich dazu, nach Riwne zurückzukehren. Zu dieser Zeit ging Shaya nicht mit mir mit. In Riwne fand ich Menschen, die der Katastrophe entkamen. Und ich erfuhr das Schicksal meiner Familie.

Meine Eltern und meine Schwester Bella wurden zusammen mit den anderen Ghetto-Einwohnern hingerichtet. Sie wurden in der Nähe von Riwne, im Sosyonki Wald, erschossen. Ich bekam eine Unterkunft und blieb einige Tage dort. Ich holte meine Arbeitsdokumentierung aus der Vorkriegszeit und ging in Trauer über meine Eltern und Schwester zurück nach Maklakowo.

Nun hatte ich nur meine Schwester Hava in Israel und meinen kleinen Bruder Aron in Polen. Ich fing einen Briefwechsel mit Bekannten an, die noch in Riwne lebten. Dort hatte sich eine kleine jüdische Gemeinde wieder angesiedelt. 1960, ein paar Jahre später, stellten sie ein Denkmal im Wald auf, wo die Massenerschießungen stattfanden. Die Namen meiner Eltern und Schwester stehen dort auf dem Stein. Ich wurde zur Einweihung des Denkmals in Sosyonki eingeladen. Ich habe noch Fotos von der Veranstaltung. Ich überlebte nur deshalb, weil ich meine Haftstrafe in Stalins Lagern abbüßte.

1958 wurde ich mit meinem ersten Kind schwanger. Shaya wollte unbedingt zurück nach Leningrad, aber wir machten miteinander aus, bis zur Geburt des Kindes zu warten, da ich 38 Jahre alt war und meine Blutdruckwerte zu hoch waren. Ich wollte sehr ein Kind. Die Geburt war schwierig und schließlich musste ich einen Kaiserschnitt haben.

Mein Sohn, Victor Shaevich, wurde 1958 in Makalakowo geboren. Wir zogen nach Leningrad als er ein Jahr alt war. Eigentlich, feierten wir in Makalakowo seinen Geburtstag und danach fuhren nach Leningrad.

Zuerst hatten wir ein Zimmer einer Wohngemeinschaft und dann, als Shaya krank wurde, wurde uns eine getrennte Ein-Zimmer-Wohnung zugeteilt. Victor ging zur Schule in der Nähe von unserer Wohnung in der Nauki-Straße 20. Die Schule war in der Nauki-Straße 23. Er absolvierte mit guten Noten.

In Leningrad wurde ich Damenschneiderin. Ich arbeitete in einer Werkstatt in der Nauki-Straße 21 bis ich in die Rente trat.

Am Anfang machte ich mir Sorgen darum, wie mein Leben in so einer großen Stadt wie Leningrad aussehen wird. Doch stellte sich alles gut heraus. Ich wurde von Shayas Freunden akzeptiert und sie waren sogar wütend auf ihn, dass er seine Frau und einjähriges Kind am Moskauer Bahnhof in Leningrad stehen ließ, um uns ein Hotel zu suchen. Eine alte Freundin von ihm, Elizaweta Iwanowna, war sehr wütend als er ankam und mitteilte, dass seine Familie noch am Bahnhof stand. Sie schickte ihn sofort zurück um uns abzuholen. Shaya kam am frühen Morgen wieder und brachte uns zu ihr, wo wir wohnten bis wir das Zimmer in Leningrad bekamen, das uns schon vor unserer Abreise von Maklakowo versprochen wurde.

1961 wurde auch ich rehabilitiert. Mein Mann wurde wieder Mitglied bei der Partei und wurde Rektor der staatlichen Universität in Leningrad. Ich arbeitete zuhause und zog unseren Sohn groß. Wir verkauften das Haus in Maklakowo und kauften Möbel.

Alles war gut, bis Shaya in 1965 an Kehlkopfkrebs erkrankte. Als er anfing, sich über Schmerzen zu beschweren, besuchten wir Ärzte, doch lange Zeit wurde es schlecht behandelt. Er verbrachte ein ganzes Jahr im Krankenhaus. Er kommunizierte mit mir durch Schreiben, weil er nicht reden konnte.

Shaya starb 1968. Victor war 10 Jahre alt.

Der Tod meines Mannes erschütterte mich sehr. Einmal, auf dem Newski Prospekt, wurde ich ohnmächtig und erlitt davon eine Gehirnerschütterung. Ich war einen ganzen Monat in einem kritischen Zustand im Krankenhaus. Aber ich erholte mich. Die Lehrerin, die meinen Sohn abholte, holte ihn zu sich, kochte für ihn und passte für diesen Monat auf ihn auf. Jetzt ist sie meine beste Freundin. Victor absolvierte das Gymnasium und wir zogen in eine andere Wohnung mit zwei Zimmern.

Victor

Nach der Schule wollte Victor Flugzeug fliegen lernen. Doch er hatte eine kleine Narbe auf seinem Bein, die er bei den Pionieren bekam, als er ins Wasser sprang und auf eine Flasche trat. Die Fliegerschule wollte ein Zertifikat vom Krankenhaus. Er zeigte es ihnen, doch er wurde trotzdem nicht aufgenommen. Victor war Sportler, Schlittenfahrer, und sagte, „Wenn ich zum Lesgaft-Institut gehe, was mach ich nach dem Absolvieren? Ich kann Sportkultur unterrichten, aber was wird mir das bringen?“

Also bewarb er sich bei der Bontsch-Brujewitsch Hochschule für Kommunikation, obwohl es für ihn schwierig war, weil er Jude war. Er kam zu mir in die Werkstatt und erzählte von den ganzen Hürden. Ich weinte ganz viel, weil ich wusste, dass der einzige Grund für sein Leiden war, dass er als Jude geboren wurde.

Doch endlich bekam er eine Zusage und er absolvierte gut. Direkt danach bekam er eine Stelle bei der Lentelefonstroj [Leningrad Verein der Telefonanbeiter]. Bis heute arbeitet er dort als Chefingenieur und hat einen guten Ruf. Während dieser Zeit erhielt ich Briefe aus Israel von meinem Bruder Aron durch die Familie Katsas in Vilnius. Im Zuge des politischen Tauwetters von 1965 kam Natan, Arons Sohn, uns besuchen.

Während der Sowjetzeit erfuhr ich einige Fälle von Antisemitismus. Einmal, als ich in der Schlage in einem Laden stand, rief eine Frau zu mir: „Geh nach Israel!“ Das zweite Mal war in der Nähe von meiner Wohnung. Als ich zum Kiosk kam, um etwas zu kaufen, nannte mich die Verkäuferin völlig ohne Provokation eine „dreckige Jüdin.“ Wäre ein Polizist in der Nähe gewesen, hätte ich nach Hilfe gerufen. Die waren die einzigen Male, an die ich mich erinnern kann, bei denen ich aufgrund meiner jüdischen Herkunft beleidigt wurde [abgesehen von Stalins Lagern].

An der Hochschule lernte Viktor Tanetschka kennen und sie heirateten. Sie haben zwei Töchter: Irotschka, die 2002 vom Wirtschaft- und Ingenieurinstitut absolvierte, und Katja, die auch an der Hochschule für Kommunikation studieren will. Mein Sohn und seine Familie leben gut, sie haben sogar eine Datscha. Sie lassen mich nicht allein, kommen mich regelmäßig besuchen und mir helfen.

In 1995 war Viktor 10 Tage in Israel, um dort Freunde zu besuchen, die aus Russland ausgewandert sind. Es gab eine Zeit, in der Viktor und seine Familie auch gehen wollten, aber sie entschieden sich schlussendlich doch dagegen. Sogar ich wollte nach Israel einwandern. Ich ging zu dem Sokhnut, doch erlaubten sie es mir nicht, mit der Begründung, dass mein Sohn und ich dort nicht glücklich werden würden. Das sagte mir auch Aron. Obwohl ich dort als ehemaliger Häftling eine Doppelrente [asirat tsion] bekommen könnte, wollte es das Schicksal nicht, das ich in Israel lebe.

Das Leben heute

1989 besuchte ich Aron in Israel. Er hat eine sehr gemütliche Vier-Zimmer-Wohnung mit zwei Bädern und anderen Annehmlichkeiten. Ich blieb 3 Monate bei ihm und wir besuchten viele Freunde von ihm, die auch den Holocaust überlebt hatten, und wir erzählten viele Geschichten aus der Kindheit. Sie wollten das ich, als geehrter Gast aus der Sowjetunion, die Kerzen anzünde. Ich zog das Tuch an und führte die Zeremonie durch. Alles lief sehr feierlich und nett.

Ich feiere alle jüdischen Feiertage bei mir. Ich spreche noch Hebräisch und die Feierlichkeiten in meiner Wohnung werden oft von ungefähr 12 Menschen besucht. Hesed Avraham ist auch sehr hilfreich.

Ich besuche die Tagesstätte, wo ich gut angesehen bin. Sie rufen mich oft an und teilen mir ihre Grüße mit, sie besuchen mich auch im Krankenhaus. Ich habe nicht genug Worte, um meine Dankbarkeit gegenüber diese Menschen ausdrucken zu können.