Erwin Landau

Erwin Landau

Erwin Landau
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Mai 2003 
Interviewer: Tanja Eckstein

Das erste Mal begegne ich Erwin Landau beim 'Tag der Offenen Tür' im Maimonides Zentrum [Jüdisches Alters - und Pflegeheim und Tagesstätte] in Wien, im 19. Bezirk. Er ist ein kleiner Mann mit vollem, grauem, gewelltem Haar. Er ist sofort einverstanden, mir ein Interview zu geben. Drei Wochen später, inzwischen war er in Israel, betrete ich seine kleine Wohnung im 16. Bezirk. Er sagt mir, dass er seit 20 Jahren allein lebt. Er ist ein guter Interviewpartner und erzählt sehr anschaulich seine Lebensgeschichte.

Erwin Landau starb 2011.

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Meine Schulzeit
Während des Krieges
Flucht nach Shanghai
Nach dem Krieg
Glossar

Meine Familiengeschichte

Mein Großvater väterlicherseits hieß Abraham Osias Landau. Seine Familie stammte aus Polen, aber ich glaube, er wurde in Österreich geboren. Das war im Jahre 1875. Mein Großvater war um sieben Jahre jünger als meine Großmutter. Die jüngste Schwester meines Vaters, Tante Laura, war nach dem Krieg bis zu ihrem Lebensende vor vier oder fünf Jahren oft in Wien, und sie sagte immer wieder: 'Dein Großvater, dein Papa und du, ihr seid alle gleich: vielseitig begabt und ihr habt Humor.' Tante Laura kannte alle drei Generationen.

Ich glaube, der Großvater war von Beruf Kaufmann und nicht sehr religiös. Er hatte in Polen viele Brüder und Schwestern. Als ich meine Tante Laura 1987 in London besuchte, lernte ich einen Landau kennen: 'Das ist dein Cousin', sagte sie. Die polnischen Landaus blieben bis zur Shoah in Polen, ein Teil der Familie schaffte es nach Amerika oder nach England zu fliehen. Einer von ihnen saß dann in London vor mir.

Meine Großmutter hieß Regina Landau. Sie wurde 1868 in Galizien, in Kolomea [heute Ukraine], geboren. Sie lebte in Wien im 2. Bezirk, ich glaube in der Großen Sperlgasse Nummer 21. Die Großmutter war sehr religiös: sie hielt den Schabbat 1 und aß nur koscher 2. Tante Grete, eine Schwester meines Vaters, hatte einen Moritz Apte geheiratet, und ich war dabei, als die Großmutter zu ihrem Schwiegersohn sagte: 'Du hast Schinken gegessen, deswegen hast du jetzt das Furunkel am Hals!' Sie sagte das auf jiddisch, denn jiddisch war ihre Muttersprache. Zu meinem Vater sagte sie einmal am Schabbat: 'Du räucherst, also geh hinaus.' Sie schmiss ihn einfach aus der Wohnung, denn am Schabbat durfte man in ihrem Haus nicht rauchen.

Meine Großmutter war zweimal verheiratet. Das erste Mal heiratete sie 1885, im Alter von 17 Jahren, wie alle ganz Religiösen der drei monotheistischen Religionen sehr jung heiraten. Die Töchter werden sehr jung verheiratet, und selbstverständlich mussten sie unberührt sein. Der Mann meiner Großmutter hieß Herr Bach, war ein Reisender und doppelt so alt wie sie. Kurz nach der Heirat übersiedelte das Ehepaar nach Wien. Alle Kinder der Großmutter wurden in Wien geboren. Zuerst die drei Bach Kinder, das war der Onkel David im Jahre 1886, die Tante Fanny im Jahre 1888 und die Tante Else im Jahre 1891.

Onkel David war Kaufmann. Er heiratete in schon etwas fortgeschrittenem Alter seine Frau Poldy. Kinder hatten sie keine. Als mein Vater sich selbständig gemacht hatte, arbeiteten mein Vater und Onkel David oft zusammen. Onkel David war das große Vorbild meines Vaters. Onkel David und Tante Poldy überlebten den Holocaust in Shanghai.

Tante Fanny heiratete Isidor Czaczkes, der Inhaber der großen Apotheke in der Nußdorferstraße, Ecke Währingerstraße, war. Tante Fanny war sehr religiös, sie kam ganz nach der Großmutter. Auch äußerlich war sie ihr sehr ähnlich.

Sie hatten zwei Kinder: Walter Czaczkes wurde 1919 geboren und Alfred Czaczkes wurde 1923 geboren. Walter ging in die Zwi Perez Chajes Schule [jüdische Schule] in Wien. 1938, er war gerade 19 Jahre alt, gewann er einen halbjährigen Aufenthalt in Palästina in einem Wettbewerb. Als die Deutschen im März 1938 in Österreich einmarschierten, war er in Palästina. Es gelang ihm, für seine Eltern und seinen Bruder Papiere zu besorgen, so dass sie zu ihm fahren konnten und gerettet waren.

Keiner der Czaczkes kam nach Wien zurück, alle blieben in Israel und lebten in Jerusalem. Walter studierte Medizin und wurde Facharzt für Nierenkrankheiten. Er heiratete eine Studienkollegin. Sie waren ein sehr verliebtes und glückliches Ehepaar, nur leider bekamen sie keine Kinder. Dann bekam sie Krebs und starb. Walter muss gewusst haben, dass er mit dem Herzen nicht mehr in Ordnung war. Er legte sich eines Tages nieder und wachte nicht mehr auf, da war er erst 65 Jahre alt. Sein Bruder Alfred Czaczkes wurde Jurist bei der Gemeinde in Jerusalem. Er hatte drei Söhne und acht oder neun Enkelkinder. Auch Alfred lebt nicht mehr. Tante Fanny und Onkel Isidor starben in den 1960er-Jahren in Jerusalem.

Tante Else, die jüngste Tochter meiner Großmutter mit Herrn Bach, heiratete einen gewissen Fleck. Herr Fleck war Kaufmann und sie hatten einen Sohn, der hieß Otto. Alle zusammen flüchteten nach Südamerika.

Meine Großmutter hatte die drei Kinder, und ihr Mann war nie da. Er machte ihr immer ein Kind und dann ging er wieder auf Reisen. Das Leben wurde für sie immer härter, und auch sie wurde immer härter. Sie war noch sehr jung, hatte drei Kinder und lebte in einem fremden Land. Als im Jahre 1891 Tante Else geboren wurde, schmiss sie ihren Mann, den Herrn Bach, einfach raus.

Ungefähr sieben Jahre später, sie war noch keine 30 Jahre alt, lernte sie meinen Großvater, den um sieben Jahre jüngeren Abraham Osias Landau, kennen. Auch mit meinem Großvater hatte sie drei Kinder. Mein Vater Max war der Älteste. Er wurde am 29. April 1899 in Wien geboren. Meine Tante Grete wurde 1901 geboren und der Jüngste, der Hermann, wurde 1904 geboren.

Onkel Hermann war ein Abenteurer und wanderte in den 1920er-Jahren nach Brasilien aus. Er heiratete in Rio eine Lilli Winokur. Mitte der 1930er- Jahre kamen sie zu einem Besuch nach Wien. Ich kann mich noch daran erinnern, die Familie wollte ihn überreden, in Wien zu bleiben. Aber ihm war Wien zu klein geworden, er brauchte 'Distanzen', so sagte er. Und sie fuhren nach Rio zurück. Als Hitler kam, holte er die Familie Fleck und seine Schwester Grete, mit Familie, nach Südamerika.

Tante Grete heiratete also den Onkel Moritz Apte, das hatte ich schon erzählt. Er war vor dem Holocaust ein hoher Angestellter der israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Die Kultusgemeinde war damals groß, es lebten 180 000 Juden in Wien. Onkel Moritz war Angestellter in der Buchhaltung der Kultusgemeinde, und ich kann mich erinnern, dass er an einem Sonntag, ich war damals ungefähr sieben Jahre alt, sagte: 'Ich muss jetzt noch hinein, es ist zwar Sonntag, aber es fehlen mir zwei Groschen in der Kassa.' Ich sagte zu ihm: 'Onkel, dann nimm die zwei Groschen und gib sie hinein.' 'Nein, das geht nicht, das verstehst du noch nicht, in der Buchhaltung muss alles perfekt stimmen.' Die Tante und der Onkel hatten eine Tochter Trude, die 1926 geboren wurde. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Zu den südamerikanischen Verwandten gibt es keine Verbindung mehr.

Mein Großvater Abraham Osias ist 1935, im Alter von 60 Jahren gestorben, aber da war er schon nicht mehr mit meiner Großmutter verheiratet. Er hatte sich von ihr scheiden lassen, weil sie sehr unzufrieden und schwierig war. Das muss während des 1. Weltkrieges, so um 1916 gewesen sein. Er heiratete dann seine Cousine, eine Maria Landau. Sie bekamen eine Tochter, meine Tante Laura. Tante Laura wurde an dem Tag geboren, an dem der Hermann, der jüngste Bruder meines Vaters, seine Bar Mitzwa 3 hatte, nämlich am 17. April 1917. Sie starb vor kurzer Zeit in England.

Tante Laura war 1938 einundzwanzig Jahre alt, ausgebildete Kindergärtnerin und fuhr nach England, um ihre englischen Sprachkenntnisse zu verbessern. Als Hitler nach Österreich einmarschierte, blieb sie in England und versuchte, ihre Großmütter, mütterlicherseits und väterlicherseits hinüberzuholen. Aber Maria Landau, die Mutter von Osias Abraham sagte: 'Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr,' und sie kam im Holocaust um. Beide Großmütter wurden ermordet.

Meine Mutter kam aus keiner jüdischen Familie. Mein Großvater mütterlicherseits hieß Karl Tebich. Er wurde 1865 in Wien geboren und war ein richtiger Proletarier vom alten Schlag. Die Großmutter, Sztarza war ihr Mädchenname, wurde 1867 oder 1868 geboren. Sie starb 1910 im Wochenbett und hinterließ ihm drei Kinder: meine Mutter Franziska, die 1903 geboren wurde, ihren Bruder Karl, der 1908 geboren wurde und ihren Bruder Fritz, der 1910 geboren wurde. Bei der Geburt vom Onkel Fritz starb die Mutter.

Als der Erste 1.Weltrieg begann, war meine Mutter elf Jahre alt. Ihr Vater wollte natürlich nicht einrücken, weil er die Kinder nicht allein lassen konnte. Aber 1916, der Krieg tobte schon zwei Jahre, sagte die Musterungskommission: 'Ihre Tochter ist alt genug, um auf die zwei kleineren Kinder aufzupassen.' Meine Mutter führte also mit dreizehn Jahren den Haushalt und passte auf ihre Geschwister auf. 'Das Schwerste in meinem Leben war, wie wir die vier Henderln [Hühner] abstechen mussten, damit wir etwas zu essen haben, denn sonst wären wir verhungert', sagte sie oft. Sie hatte durch den frühen Tod ihrer Mutter eine schlimme Kindheit und Jugend. Zum Glück kam der Vater 1918 unverletzt aus dem Krieg nach Hause.

Mein Vater war zu Beginn des 1.Weltkrieges 15 Jahre alt und wollte unbedingt etwas für sein Vaterland tun. Seine Mutter kam als junge Frau aus der Bukowina, und sie war in Wien gut aufgenommen worden, und auf diese Art und Weise wollte er sich bedanken. Sein Bruder David war um die Jahrhundertwende Berufssoldat geworden, und auch der sagte zu meinem Vater: 'Du bist doch ein junger Mann, bist schon 15 Jahre alt und kannst etwas tun.' Da meldete sich mein Vater freiwillig zur Armee. Natürlich wiesen sie ihn ab, aber ein Jahr später sagten sie: 'Wenn du unbedingt etwas tun willst junger Mann, dann kannst du in der Munitionsfabrik Wöllersdorf arbeiten.' Vor Kriegsende flog die Munitionsfabrik in die Luft, da gab es 30 oder 40 Tote und an die 100 Schwerverletzten - einer davon war mein Vater. Er lag monatelang im Spital zwischen Leben und Tod. Darum glaubte er auch, als der Hitler kam, dass ihm nichts passieren würde, denn er hatte doch sein Blut im 1.Weltkrieg gegeben.

Nach dem Krieg absolvierte mein Vater einen Buchhaltungskurs und kam mit siebzehn Jahren in einer Import - Exportfirma unter, in der er in der Buchhaltung arbeitete. Als ein Vertreter, das waren Schreibwarenimporteure, erkrankte, sprang mein Vater für ihn ein und wurde der Spitzenverkäufer in dieser Firma. In der Firma lernte er dann auch meine Mutter kennen. Meine Mutter hatte einen Schreibmaschinenkurs belegt und Anfang der 1920er-Jahre begann sie in dieser Firma als Schreibkraft zu arbeiten. Durch ihre schwere Kindheit war sie sehr selbständig und hatte sogar an einem Englischkurs teilgenommen.

Meine Eltern haben sich ineinander verliebt, und mein Vater sagte zu meiner Mutter, er wolle sie heiraten und sie antwortete: 'I muaß mit meim Voda redn [Ich muss mit meinem Vater reden].' Ihr Vater war Vorarbeiter in einer Lokomotivfabrik in Floridsdorf und ein fanatischer Kommunist. Auch er konnte nur im Dialekt sprechen. Meine Mutter ging zu ihrem Vater und sagte ihm, sie wolle gern einen jüdischen Mann heiraten, ob er einverstanden sei. Er war einverstanden, schon aus dem Grund, weil er wusste, dass sich der Pfarrer dann ärgern würde. Mein Vater ging zu seiner Mutter und fragte: 'Bist du einverstanden, dass ich sie heirate, wenn sie Jüdin wird?'

So konvertierte meine Mutter zum Judentum und wurde religiöser, als mein Vater es war. Denn obwohl mein Vater aus einem sehr religiösen Haus kam, war er selber überhaupt nicht religiös. Jeden Freitag, am Schabbat, zündete meine Mutter Kerzen, und wir feierten alle hohen Feiertage. Der Großvater starb ungefähr im Jahre 1935 und Onkel Karl, ein Bruder meiner Mutter, starb auch in den 1930er-Jahren. Onkel Fritz, der 1938 heiratete, übernahm den Posten seines Vaters in der Lokomotivfabrik. Er war ein lieber Kerl und suchte sich, weil die Lokomotivfabrik im Krieg Panzerteile erzeugte, dadurch wurde er aber nicht als Soldat eingezogen, eine andere Arbeit. Einige Monate vor Ende des Krieges wurde er doch noch eingezogen und kehrte nicht mehr zurück. Er hat eine Tochter Edith, die 1939 in Wien geboren wurde.

Später machte sich mein Vater selbständig und wurde Handelsvertreter für Schreibwaren, das ist mit ein Grund dafür, warum ich in die Büromaschinen Branche einstieg.

Meine Kindheit

Ich wurde am 22. Juli 1929 in Wien geboren. Es hat eine große Wohnungsnot in Wien geherrscht, und meine Eltern haben keine Wohnung gefunden. Darum habe ich die ersten eineinhalb Jahre bei Pflegeeltern in der Nähe von Schwechat gelebt. In dieser Zeit wohnten meine Eltern im 'Hotel Bayerischer Hof' in der Taborstraße. Dann haben sie eine Wohnung im 2. Bezirk gefunden, in der Stuwerstrasse 39. Die Wohnung war klein, sie bestand aus einem Zimmer, einer Küche und einem Kabinett [kleines Zimmer].

Meine Mutter wurde Hausfrau. Als sie noch keine Kinder hatte, ist sie sehr viel ins Theater und in die Oper gegangen, und je älter sie wurde, hat ihr Leben immer mehr aus dem Haushalt bestanden und den Kindern. Allerdings hat das zum großen Teil an meinem Vater gelegen - er war noch vom alten Schlag. 'Weißt du, warum ich die Mutti kennen gelernt habe' schwärmte er, 'sie hat so ein wunderbares Erdäpfelgulasch gemacht!' Meine Mutter konnte aus Nichts ein herrliches Essen zaubern, das gefiel meinem Vater. Sie wurde zur Hausfrau; kochen und die Reinigung des Fußbodens, das wurden ihre größten Leidenschaften.

Mein Vater hat gut verdient, aber er war nicht sehr fleißig. Er war immer zwei drei Monate unterwegs, und dann hat er es sich gut gehen lassen. Meiner Mutter hat er Kostgeld gegeben, und wenn er gut gelaunt war, sagte er: 'Hier ist etwas für dich, ein Taschengeld.' Mein Vater ist schon lange tot, aber gut benommen hat er sich meiner Mutter gegenüber nicht - das denke ich oft.

Als mein Vater selbständig wurde, arbeitete er anfangs mit Onkel David zusammen. Später hatte er einen Kompagnon. Der Kompagnon hatte ein großes, schweres Motorrad. Sie fuhren oft mit dem Motorrad auf Geschäftsreise, denn sie arbeiteten in ganz Europa und kamen bis nach England. Mein Vater war ein großer Feinschmecker - er wusste, wo die Küche gut war und wo nicht. 'In Holland kann man wunderbar frühstücken, aber die besten Suppen gibt es in Metz.'

Die beiden Geschäftspartner waren immer lange unterwegs. In Hamburg sahen sie einmal an einem Lokal 'Wiener Küche' stehen. Sie hatten schon so lange keine Wiener Schnitzel mehr gegessen und bestellten zwei. Die Schnitzel wurden serviert und schwammen in einer weißen Soße. Mein Vater fragte entsetzt: 'Was ist das?' 'Das ist ein Wiener Schnitzel', wurde ihm geantwortet. 'Neman´s dös und hauen´ses weg, des is ka Schnitzl [Nehmen sie das und werfen sie es weg, das ist kein Schnitzel]', sagte mein Vater empört.

Für mich war das Benehmen meines Vaters äußerst unangenehm: 'Herr Ober, da ist ein Ei drinnen, das ist nicht ganz frisch, nehmen sie das weg, das esse ich nicht.' Zu mir sagte mein Vater dann: 'Er bekommt anständig bezahlt, also muss er ein anständiges Essen liefern.'

Am 9. März 1931 ist mein Bruder Ernst Landau geboren.

Unsere Familie war viel zusammen, die Großmutter und alle Schwager und Schwägerinnen kamen zu uns, und wir gingen zu ihnen. Einmal ist die Tante Fanny gekommen und hat gesagt: 'Der Bua ist musikalisch, ich werde ihm eine kleine Geige kaufen.' Mein Vater hat mir die Geige übergeben und gesagt: 'Das ist von der Tante Fanny.' Sonst hat er aber nichts gesagt. Ich war erst fünf Jahre alt und habe gedacht, das sei ein Spielzeug und habe begonnen, die Geige zu zerlegen, um zu schauen, wie es drinnen ausschaut. Ein paar Monate später ist Tante Fanny wieder auf Besuch gekommen und hat gefragt: 'Lernt er brav Geige spielen?' Mein Vater sagte schuldbewusst: 'Nein, er hat sie zerlegt!' 'Na hast du ihm keinen Geigenunterricht geben lassen?' Daraufhin hat die Tante Fanny sehr geschimpft mit meinem Vater.

Unsere Nachbarn in der Stuwerstrasse waren lauter Juden. Der Glasermeister im Haus war ein ganz Religiöser mit einem langen Bart. Auch ein koscherer Fleischhauer mit einem weißen Bart wohnte ganz in unserer Nähe. Der Glasermeister hatte acht oder neun Kinder, der kleinste war der Maxi. Meine Mutter stellte einmal eine Kiste mit altem Spielzeug hinaus, und der Maxi durfte sich etwas aussuchen. Er glaubte, er sei im Traumland, er hatte so etwas noch nie gesehen, weil diese Familie bitter arm war.

Meine Schulzeit

Ich wurde so erzogen, dass ich stolz darauf bin, ein Jude zu sein. Mein Bruder und ich waren sehr behütet, wir durften nicht allein über die Gasse gehen. Als ich in die Schule in die Schönngasse, im 2. Bezirk, kam, brachte mich der Vater das erstemal hin. Vor der Schule war ein kleines Geschäft mit Schreibwaren. Eine alte Frau war die Inhaberin und mein Vater sagte zu mir: 'Wenn du etwas brauchst, ein Heft oder einen Radiergummi, dann kaufst du das hier bei dieser alten Dame.' Die alte Dame schloss mich in ihr Herz. Drei Jahre später kam der Hitler, und ich war gerade bei dieser Frau, als ein älterer Junge hereinkam und mich fragte: 'Bist a Jud?' Ich bejahte und platsch, gab er mir eine Ohrfeige. Da schrie die alte Dame: 'Du Lauser, woas haust den Klanen, i hau die a glei [Du Lausbub, warum haust du den Kleinen, ich hau dich auch gleich]!' Ich war wirklich stolz darauf ein Jude zu sein.

Seit Anfang der Volksschulzeit hatten wir Religionsunterricht. Ein paar Straßen weiter, in der Sebastian-Kneipp-Gasse, war eine jüdische Schule, da gingen die sieben jüdischen Kinder meiner Klasse ein - oder zweimal in der Woche zum Religionsunterricht. Wir lernten hebräisch lesen und ich besitze noch heute mein Gebetbuch aus dieser Zeit.

In der Schule hatten wir zuerst einen Lehrer, den Herrn Steiner, der war ein glühender Sozialist. Als die Nazis kamen wurde er über Nacht gegen einen Erznazi ausgetauscht. Wir sieben jüdischen Buben mussten dann in eine jüdische Schule im 2. Bezirk, in die Vorgartenstrasse, wechseln. Auf dem Nachhauseweg von dieser Schule kamen wir immer an unserer alten Schule vorbei, und da lauerten oft Kinder auf uns, um uns zu verprügeln. Ich hatte dann eine gute Idee: wenn ein Erwachsener vorbeiging, lief ich im gleichen Schritt neben ihm her, so dass man nicht wusste, ob ich zu dem gehöre. Dadurch wurde ich nicht mehr verprügelt.

Mein Mitschüler Ashkenasy ist schon in Südamerika gestorben. Als ich in der Kultusgemeinde arbeitete, ist ein älteres Ehepaar aus Südamerika gekommen: 'Wir heißen Ashkenasy', haben sich vorgestellt. 'Ashkenasi, so hat ein guter Mitschüler von mir geheißen.' 'In welcher Schule waren Sie?' 'In der Schönngasse.' 'Da war unser Neffe auch.' 'Was ist aus ihm geworden?' 'Mit 33 Jahren wurde er krank und ist gestorben.' Da brachte ich ihnen das Foto, das ich von meiner Volksschulklasse besitze, und sie haben es sich kopiert. Dunkelblum ist der Einzige, der noch in Wien lebt.

Während des Krieges

Als der Hitler kam, sagte mein Vater zuerst: 'Mir passiert nichts, ich habe doch mein Blut im Weltkrieg gegeben!' Dann wurde er verhaftet. Mein Vater war, wie auch mein Großvater und ich es bin, ein großer Witze Erzähler. An seinem Stammtisch im Lokal erzählte er immer Witze. Da wurden einige Tische zusammengestellt, und die Leute zerbogen sich vor Lachen.

Mein Vater war einer der Ersten, die verhaftet wurden, und er wartete auf den Abtransport ins KZ, als auf einmal einer seiner Zuhörer vom Stammtisch in der Uniform eines hohen Nazi kam: 'Ja Maxl, was machst du denn hier?' 'Ich bin Jude, ich werde jetzt ins KZ kommen', antwortete mein Vater. Der Nazi ließ meinen Vater einfach gehen. So rettete seine Witzerzählkunst ihm und unserer Familie das Leben.

Als er verhaftet wurde, verwandelte sich die Heimatliebe meines Vaters in glühenden Hass. Er verspürte fast einen pathologischen Hass auf Österreich und sagte: 'Wir bleiben nicht hier in diesem furchtbaren Land, in dem man, ohne etwas Schlechtes getan zu haben, verhaftet werden kann.' Nach Südamerika hätten wir durch den Onkel Hermann emigrieren können, aber da meinte mein Vater, da fahre er nicht hin, da würden ja nur Halbwilde leben. Er wollte nicht weit weggehen, also fuhren wir erst einmal nach Köln. Das war im Sommer 1938.

Wir haben für unsere Eigentumswohnung samt der Einrichtung 200 Mark von irgendeinem Nazi bekommen. Meine Mutter hat geweint und gesagt, schon die Einrichtung sei ein vielfacher Wert. 'San's froh, dass sie des kriegen, andere kriegen überhaupt nichts', hat der Nazi gesagt. Nachdem wir die Wohnung verkauft hatten, sind wir zum Zug gegangen und nach Köln gefahren - wir wollten über die Dreiländergrenze Luxemburg, Frankreich, Deutschland. Ein direktes Ziel hatten wir nicht. Ich war neun Jahre alt, mein Bruder war sieben Jahre alt. An der Grenze sagten die Beamten: 'Wir können Sie nicht rüberlassen, wir haben unsere Befehle.' Was hätten wir tun sollen? Wir fuhren zurück nach Wien und gingen auf die Kultusgemeinde, denn wir hatten ja keine Wohnung mehr. Die Kultusgemeinde gab uns eine kleine Wohnung in der Robertgasse, im 2. Bezirk, in der Nähe der Urania. Dort lebten wir einige Monate zusammen mit der Witwe des Großvaters, Tante Marie nannten wir sie. Sie hatte auch ihre Wohnung verloren und Angst, allein zu sein - sie war ja schon eine ältere Dame. Nach einigen Monaten erfuhr mein Vater im Kaffeehaus, dass man für Schanghai keine Affidavids 4 brauchte. Eigentlich wollte er immer nach Amerika, in das Gelobte Land, aber nun flüchteten wir nach Schanghai.

Flucht nach Shanghai

Die Reise begann im Februar 1939. Wir fuhren mit einem Zug nach Genua, verpassten das Schiff, fuhren mit dem Zug von Genua nach Neapel und in Neapel gingen wir auf unser Schiff. 1600 Leute waren auf dem Schiff. Ungefähr zwei Drittel waren aus Deutschland und ein Drittel aus Österreich. Die Deutschen und die Österreicher stritten sich ständig. Die Deutschen sagten den Österreichern, sie könnten nicht richtig deutsch sprechen, und die Österreicher sagten zu den Deutschen, sie seien Marmeladefresser. Wir Kinder konnten das nicht begreifen. Wir Kinder und Jugendlichen hatten keine Probleme damit, ob einer deutscher Jude oder österreichischer Jude war. Wir waren ungefähr sieben Buben im selben Alter. Zwei leben nicht mehr, Bobbi Klein, der Jüngste und mein Bruder, der Zweitjüngste. Drei Schiffe fuhren zwischen Schanghai und Italien hin und her, das ganze Jahr 1939 kamen Flüchtlinge in Shanghai an.

Zuerst haben wir in einem der ersten Hochhäuser Shanghais gewohnt. Es wurde in den 1920er- Jahren gebaut. Das Haus soll es heute noch geben, aber jetzt stehen viele Hochhäuser um unser Haus herum. Dann wohnten wir in Hongkew, einem Vorort von Schanghai. Dort hat man sehr billig gewohnt, und wir haben mit vielen Deutschen und Österreichern zusammen gelebt.

Mein Bruder und ich stritten als Kinder viel - wir waren uns sehr unähnlich. Er hat auch ganz anders ausgesehen als ich - er war groß und schlank - er war immer besonders schlank. In Schanghai hatte ich einen japanischen Judolehrer. Alles, was ich beim Judo gelernt habe, habe ich an meinem Bruder aus probiert, weil er viel schwächer war als ich. Später waren wir dann aber sehr eng miteinander verbunden.

Es haben sich viele zionistische Organisationen gegründet, und die bemühten sich sehr um die Jugend. Ich wurde Mitglied in der zionistischen Jugendbewegung Betar, die eine braune Uniform hatte. Als mich mein Vater das erste Mal in der Uniform gesehen hat, hat er gesagt: 'Das ist doch eine Naziuniform, was fällt dir ein?' Da habe ich ihm erklärt, dass die Organisation Betar schon vor den Nazis existiert hat.

Nach dem Krieg

Wir wurden alle Zionisten. 1947 begannen die Menschen in ihre Heimatländer zurückzufahren. Der Vater meines besten Freundes, Doktor Eberstark, war Arzt. Er ließ eine schöne Praxis zurück, weil er nach Hause wollte. Mein Vater aber sagte: 'Nicht einmal sterben will ich in Österreich!' Wenn wir in Shanghai Nachrichten über Bombardierungen in deutschen Städten hörten, sagte er: 'Wann bombardieren sie endlich Wien?' Er hatte so einen Hass auf sein vor dem Krieg so geliebtes Land und verwand nie, was man uns angetan hatte. Er träumte von Amerika, aber Amerika kam nicht in Frage, denn mein Bruder und ich wollten nach Palästina. So fuhren wir am 31. Dezember 1948, nach neun Jahren in Shanghai, nach Palästina.

Das Schiff musste um Afrika herumfahren, um nach Palästina zu gelangen, weil der Suez-Kanal gesperrt war. Zweimal legte das Schiff an Häfen an: die erste Station war Kapstadt, die zweite Station war Dakar in Westafrika. In Italien gingen wir auf ein anderes Schiff und kamen Anfang 1949 in Palästina an.

Meine Eltern und mein Bruder versuchten sich in Palästina irgendwie durchzuschlagen, und ich meldete mich zum Militär. Zuerst wollte ich zur Marine, das war unser aller Traum, die Marine. Aber meine Mama sagte: 'Du wirst da hingehen, wo du hingeschickt wirst,' und das waren die schweren Mörser im Norden des Landes.

Ich habe in Schanghai meine Matura gemacht, und mein Vater hatte gesagt: 'Medizin wirst du nicht studieren. Ich weiß, das ist dein Wunsch, aber du musst etwas Praktisches lernen, denn wir wissen nicht, wie lange wir hier bleiben müssen.' Da begann ich mit einer Elektrolehre. Ich lernte und arbeitete bei Elektrofirmen, bin aber manuell nicht besonders geschickt. Nach meiner Grundausbildung bei der Armee in Israel wurden wir gefragt, wer Armeebevollmächtigter für Gesundheit werden will. Das war mein Traum! Ich sagte sofort zu. Ich hatte eine gute Ausbildung und gehörte zu den drei Besten des Kurses. Die Besten wurden zu kleinen Armeeeinheiten geschickt, damit auch diese Einheiten einen eigenen Arzt hatten. Im Alter von 20 Jahren war ich für die Gesundheit von cirka 80 Leuten zuständig

Ich war im März 1949 in die israelische Armee eingetreten und blieb bis März 1951 beim Militär. Danach habe ich ein Jahr mit geistig Behinderten gearbeitet. Diese Arbeit wurde sehr gut bezahlt, und es ging mir gut. Ich hatte auch einen Freund, den Aron Kohn. Er war der Sohn von einem Schochet [Fleischhauer, der nach dem jüdischen Gesetz für koscheres Schlachten, schlachtet] in Jassi, in Rumänien. Wir waren gleichaltrig, seine Muttersprache war jiddisch, aber er sprach auch gut hebräisch. Wir hatten uns sehr angefreundet

Mein Vater konnte in Palästina nicht als Verkäufer arbeiten, da er kein Wort hebräisch gesprochen hat, aber er konnte sehr gut Schilder malen. Also wurde er Schildermaler. Die Leute wollten aber oft nicht den vorher ausgehandelten Preis für seine Schilder zahlen. Er verstand das nicht, er sprach die Sprache nicht, er vertrug das Klima nicht und bekam Herzbeschwerden. Meiner Mutter ist es gut gegangen, sie hatte keine Beschwerden. Da mein Vater unglücklich war, haben meine Eltern mit meinem Bruder Israel im Jahre 1950 verlassen und sind zurück gefahren nach Wien. Fluchend und schimpfend kam mein Vater zurück.

Ich bin 1952 mit einer Genehmigung des israelischen Militärs nach Österreich gefahren, weil mein Vater krank war. Auch wenn man nicht mehr beim Militär war, musste man einmal im Monat ein paar Tage Militärdienst leisten und einmal im Jahr einen Monat. Ich wurde ein Jahr davon befreit, weil ich gesagt habe, dass mein Vater sehr krank sei. Als er 1956 gestorben ist, bin ich nicht mehr nach Israel zurückgegangen. Ich wollte, aber ich konnte meine Mutter nicht allein lassen, obwohl mein Bruder auch in Wien war.

Ich dachte, wenn etwas mit meiner Mutter sein sollte, dann fahre ich nach Israel zurück. Ich traute mich aber auch nicht mehr zurück nach Israel, ich hatte Angst, denn ich hatte mich ja nur für ein Jahr vom Militär abgemeldet. Erst nach 25 Jahren, 1977, fuhr ich wieder nach Israel auf Besuch.

Mein Bruder hatte in Shanghai eine Fotografenausbildung gemacht und so wurde sein Hobby zum Beruf. Er hat in Wien im September 1953 geheiratet. Im Jänner wurde seine Tochter Lisi geboren, und ein Jahr später wurde der Fredi geboren. Nach acht oder neun Jahren ging die Ehe auseinander.

In Schanghai hatte er eine Freundin, da war er fast noch ein Kind. Sie war vier Jahre jünger als er. Sie hat Shanghai zur selben Zeit wie wir verlassen und in Israel in einem Kibbutz gelebt. Sie heiratete einen Mann, weil sie mit 16 ein Kind von ihm bekam. Aber geliebt hatte sie diesen Mann nie. Fast gleichzeitig mit meinem Bruder ließ sie sich scheiden, und sie haben wieder Kontakt zueinander aufgenommen. In den 1960er-Jahren ist mein Bruder nach Israel zurückgegangen und hat seine Jugendliebe Eva Avroschenko geheiratet, was nicht so einfach war, denn beide waren geschieden. Mein Bruder musste zu einer orthodoxen Eheberatung, aber dann durften sie heiraten. Sie lebten dann in Kiriat Ono. Als er nach Israel kam, hat er bei der Generalvertretung von Kodak gearbeitet. Die Firma wurde aus irgendeinem Grund aufgelöst, und er wurde Leiter in der Buchhandlung Steinmatzky. Steinmatzky hat viele Filialen, er arbeitete in Tel Aviv, in der Nähe eines Theaters.

Meine Ehefrau Eva Landau, geborene Fritz, wurde am 8. August 1929 in Wien geboren. Sie war keine Jüdin. Nach der Matura, 1947, studierte sie Zeitungswissenschaft und arbeitete dann als Volontärin für die Salzburger Nachrichten. 1950 erkrankte ihr Vater. Ursprünglich war er Kapitän, aber als er seine Frau, die die Tochter eines Generals war, heiratete, arbeitete er in der Creditanstalt [Bank]. Am Ende seiner Berufstätigkeit war er Leiter der Auslandsabteilung. Als er sehr krank wurde, organisierte er seiner Tochter einen Posten in der Nationalbank, wo meine Frau von 1950 bis 1981 arbeitete.

Im September 1953 haben wir geheiratet. Mit den Kindern ließen wir uns Zeit, wir wollten erst einmal finanziell halbwegs abgesichert sein. 1960 wurde Michael geboren. Im Alter von 33 Jahren bekam ich einen Herzinfarkt, und das veränderte mein Leben. Ich sollte mich nicht mehr anstrengen, und ich wurde sehr bescheiden. Meine Frau wollte einen zweiten Sohn, Daniel kam 1964 auf die Welt.

Ich habe zu dieser Zeit überlegt, wegen der Kinder jüdisch zu leben. Dann aber habe ich gedacht, es ist Heuchelei, wenn ich nur für die Kinder anfange Gebetsriemen zu legen. Aber ich schickte die Kinder, den Michael vor allem, zur Hakoah 5. Der frühere österreichische Meister im 100 Meter Brustschwimmen, war ein Hakoahner, der Herr Professor Paul Haber. Jetzt ist er der Präsident der Hakoah. Der Nachfolger von Haber über 100 Meter Brust war mein Sohn. Im ersten Jahr war er Zweiter, im zweiten Jahr wurde er Klubmeister. Michael war vielseitig interessiert. Ich hatte nicht Karriere gemacht, weil ich zu vielseitig war, mich interessierte alles, und ich konnte mich auf nichts festlegen.

Als ich meine Frau kennen gelernt habe, hat sie gesagt: 'Du willst Medizin studieren, also ich rate dir ab. Du warst 13 Jahre weg von zu Hause, und es gibt so viele Mediziner hier.' Da dachte ich, sie muss es wissen und wir entschieden uns für ein Studium an der Hochschule für Welthandel. Wir studierten beide Wirtschaftswerbung und schlossen gemeinsam das Studium ab.

Während des Studiums habe ich für die Amerikaner gearbeitet. Damals sprach ich noch fünf Sprachen: chinesisch, japanisch, französisch, hebräisch und englisch. Ich habe mir vorgestellt, mit dieser Ausbildung und den Sprachen könnte ich in einer Firma arbeiten, die weltweite Kontakte hat und ich mit meinen chinesischen und japanischen Sprachkenntnissen nach China und nach Japan geschickt werden würde.

Als mein Vater 1956 gestorben ist, habe ich vier Jahre als Vertreter in einer Büromaschinenfirma gearbeitet. Ich war Fachmann für besonders hochwertige Maschinen. Danach war ich Geschäftsführer für eine große Druckerei. Das war ein sehr altmodischer Betrieb, den es schon lange nicht mehr gibt, die Gebrüder Rosenbaum waren das. Administrationskenntnisse und Sprachkenntnisse waren wichtig, um den Export zu fördern, ich verdiente gut. Nach zweieinhalb Jahren habe ich einen Herzinfarkt bekommen. In meiner Familie sind fast alle an Herzversagen gestorben. Keiner hat das siebzigste Lebensjahr erreicht, außer mir.

Damals hat es sehr wenig Verständnis für Herzpatienten gegeben, und ich wurde entlassen. Ich habe mich dann mit Drucksachen selbständig gemacht - vor allem mit Weihnachtsbillets - und ein paar Jahre als Vertreter gearbeitet. Danach habe ich für die Encyclopedia Britannica gearbeitet und zwei Pokale bekommen, weil ich zweimal der beste Verkäufer war. Ein Jahr habe ich für Bernie Cornfeld gearbeitet. Bernie Cornfeld war der erste, der den Gedanken des Fonds publik machte und sich sehr um private Kunden bemühte. Ich habe ein Jahr lang Kunden gewonnen und dann ist Bernie Cornfeld mit dem Geld verschwunden. Ich hatte meine Freunde überredet einzusteigen, und aus Freundschaften wurden Feindschaften. Auch ich hatte fünftausend Dollar investiert.

Dann habe ich in der Zeitung der Israelitischen Kultusgemeinde gelesen, dass sie die Inseratenabteilung stark erweitern wollen. Ich habe mich für diesen Posten beworben, und 1970 begann ich mit meiner Arbeit in der Kultusgemeinde. Von 1970 bis 1975 habe ich die Inseratenabteilung vervierfacht und sie bis 1982 verwaltet.

Meine Mutter starb am 8. Januar 1976 in Wien.

Dr. Hodik wurde 1982 Geschäftsführer der Kultusgemeinde und hat mir das Friedhofswesen angeboten. Aber 1984 durfte ich nur noch halbtags arbeiten, weil die Kultusgemeinde sparen musste. Halbtags habe ich die Arbeit jedoch nicht geschafft, aber man hat mir die Stunden nicht mehr zurückgegeben. Ich habe mit Kündigung gedroht in dem Glauben, der Kultusgemeinde wichtig zu sein. Aber sie haben mich gehen lassen, und seit 1984 war ich arbeitslos.

Ich habe Arbeitslosenunterstützung bekommen. Mit 55 Jahren hatte ich kaum noch Chancen auf eine neue Arbeit, obwohl ich durch die Inseratenabteilung viele Firmen gekannt habe. Ich ließ mich gesundheitlich durchchecken und der Arzt hat mir geraten, da mein Herz nicht gesund war, in Pension zu gehen.

Meine Frau und ich haben lange Zeit eine gute Ehe geführt, aber meine Frau wurde krank, und wir haben begonnen zu streiten. Wir haben uns nicht scheiden gelassen, aber ich bin 1984 ausgezogen. Ich habe damals gedacht, das wäre nur für einige Monate, aber es war für immer. Meine Frau starb in Wien am 26. April 1999, sie war nicht einmal 70 Jahre alt.

Mein Sohn Michael hat zwei Doktorate. Er war Chemiker und das mit großer Begeisterung. Er hat 1988 promoviert, und ich habe gedacht, er wird Chemiker in einer großen Firma werden, doch dann hat er Theologie studiert, in Rom ein Stipendium bekommen, in Rom studiert und im Oktober 1992 ist er Priester geworden. Er hat noch in Kirchenrecht promoviert und ist seit 1995 Caritasdirektor der Erzdiozöse Wien.

Mein Sohn Daniel hat mit dem Medizinstudium begonnen und es hat ihm bis zu dem Tag gefallen, an dem man ihm einen Arm gereicht hat und gesagt hat, er soll den Ellbogen herausarbeiten. Da er sehr musikalisch ist, hat er dann die Musikhochschule besucht. Außerdem hat er an der Hochschule für Welthandel und an der Pädagogischen Akademie studiert. Er hat die Wiener Sängerknaben unterrichtet und ist mit ihnen durch die Welt gefahren. Heute arbeitet er in einer Privatschule und ist dort zuständig für alles, was mit Musik zu tun hat: Chorwesen, Instrumentenkunde und Gesang.

Ich gehe ab und zu ins Maimonides Zentrum, und ich gehe hin und wieder am Schabbat in den Tempel. Ich bin etwas religiöser geworden. Ich glaube, das hängt mit dem Alter zusammen. Ich kenne den Oberrabbiner Eisenberg, als ich nach Österreich zurückkam, war er genau zwei Jahre alt. Ab dem Jahr 1953 war ich immer wieder im Tempel. Ich interviewte ihn einmal, da war er 16 Jahre alt. Ich fragte ihn, ob er schon Pläne für die Zukunft habe, und er sagte, er wolle auch Rabbiner werden, wie sein Vater.

Zu den hohen Feiertagen bin ich immer im Tempel, da trage ich einen dunklen Anzug und habe die passende Stimmung. Ich faste zu Jom Kippur 6, ich habe immer gefastet, sogar im Militär.

Ich fahre fast jedes Jahr nach Israel. Mein Bruder ist vor vier Jahren gestorben, seine Frau Eva vor zwei Jahren. Aber Evas Tochter ist da, und sie hat drei Kinder - der Jüngste ist erst fünfzehn.

Mein Freundeskreis in Wien sind einfache, brave Menschen - Nichtjuden und Juden. Die meisten Leute in Österreich sind falsch und verlogen, und es gibt viele Antisemiten. Ich kann die Charaktere nicht leiden. Wenn ich das zu meiner Frau gesagt habe, war sie immer böse und sagte zu mir, ich sei doch selber ein Österreicher. Ja, das stimmt, ich bin ein Österreicher, aber ich bin, wenn auch teilweise gezwungenermaßen, in der Welt herumgekommen. Bis zum heutigen Tag bedaure ich, dass ich Israel verlassen habe.

Glossar

1 Schabbat [hebr

: Ruhepause]: der siebente Wochentag, der von Gott geheiligt ist, erinnert an das Ruhen Gottes am siebenten Tag der Schöpfungswoche. Am Schabbat ist jegliche Arbeit verboten. Er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen. Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.

2 Koscher [hebr

: rein, tauglich]: den jüdischen Speisegesetzen entsprechend.

3 Bar Mitzwa [od

Bar Mitzwa; aramäisch: Sohn des Gebots], ist die Bezeichnung einerseits für den religionsmündigen jüdischen Jugendlichen, andererseits für den Tag, an dem er diese Religionsmündigkeit erwirbt, und die oft damit verbundene Feier. Bei diesem Ritus wird der Junge in die Gemeinde aufgenommen

4 Affidavit

Im anglo-amerikanischen Recht eine schriftliche eidesstattliche Erklärung zur Untermauerung einer Tatsachenbehauptung. Die Einwanderungsbehörden der USA verlangen die Beibringung von Affidavits, durch die sich Verwandte oder Bekannte verpflichten, notfalls für den Unterhalt des Immigranten aufzukommen.

5 Hakoah

Hakoah Wien ist ein 1909 gegründeter jüdischer Sportverein. Der Name ist hebräisch und bedeutet 'Kraft'. Bekannt wurde vor allem die Fußballmannschaft [gewann 1925 die österreichischer Meisterschaft]; der Verein brachte auch Ringer, Schwimmer und Wasserballer hervor, die internationale und olympische Titel für Österreich errangen. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 an das Deutsche Reich wurden die Spielstätten beschlagnahmt und der Verein 1941 verboten.

6 Jom Kippur

der jüdische Versöhnungstag, der wichtigste Festtag im Judentum. Im Mittelpunkt stehen Reue und Versöhnung. Essen, Trinken, Baden, Körperpflege, das Tragen von Leder und sexuelle Beziehungen sind an diesem Tag verboten.